Friends

Wir werden uns wohl nie wiedersehen, ging es mir durch den Kopf, als der S-Bahnzug sich langsam in der Ferne verlor. Das kannte ich schon. Freundinnen streiften mich oft nur wie Tangenten eine Kurve, und verschwanden danach im Unendlichen. Zu tieferen Beziehungen, die über eine Bahnfahrt, die gemeinsame Spätschicht, oder den sechs Wochen in einem Lager für Zivilverteidigung, von denen hier noch die Rede ist, hinausgingen, reichte es, trotz großer Sympathie und spontanem gegenseitigen Verstehen, oft nicht. Ich glaube, dass das daran lag, das sie, die Menschenkenner waren, in mir einen Außenseiter sahen und ahnten, dass ich es nicht leicht haben werde. Im Grunde haben sie mir ja nichts getan, sondern nur eine freundschaftliche Erwartung erzeugt, die sie nicht zu erfüllen gedachten.

Vielleicht machte ich auch den Fehler, meine Zuneigung einfach so zu verschenken, so dass diese ihnen als nichts besonderes erschien. Was man kampflos erhält, wirft man auch schnell wieder weg. Ich bin sozusagen, leicht zu erobern gewesen.

Wo es hier gerade um eine Bahnfahrt geht. Was für ein Verlust wäre der Menschheit entstanden, wenn Mick Keith, den er auf dem Bahnhof traf, als er mit einem Stapel Platten aus Amerika unter dem Arm auf den Zug wartete, und mit dem er sich während der Fahrt nach London über Musik unterhielt und feststellte, dass sie auf der gleichen Linie lagen
- eine Geschichte, die in jeder Biografie der Band enthalten ist, von denen ich gefühlt fünfzig gelesen habe. Jemand, der auch ein großer Fan von ihnen ist, erzählte mir: "Als ich nach der Wende das erste Mal was über sie las" - im Osten gab es kaum Bücher über Musiker - "konnte ich für eine Weile ihre Musik nicht mehr hören." -
danach einfach nicht mehr gegrüßt hätte, aus irgendeinem unerfindlichen Grunde, vielleicht nur, weil ihn ärgerte, dass Keith Muddy Waters für einen größeren Sänger hielt als Blind Lemon Jefferson, oder weil er befürchtete, dass der andere bei Frauen mehr Chancen haben könnte als er? Dann hätten wir kein "Paint it black" und auch keinen "Midnight rambler". "Nicht auszudenken", sagt ein beinharter Stonesfan, auch wenn ich weiß, dass die Jungs schon seit langem auf der Stelle treten.

Chinagirl

Wie schon erwähnt, befand ich mich gerade auf einem Bahnhof in Berlin. “Wieder nichts geworden mit der Freundschaft”, dachte ich und sah dem abfahrenden Zug, hinterher, in dem meine potentielle Freundin entschwand, hin zu ihren zukünftigen Enkelkindern. Vor einer Minute hatten wir beide noch lachend nebeneinander auf dem Bahnsteig gestanden. Kurz nach Mitternacht war unser Regionalzug aus Stralsund in Lichtenberg eingetroffen. In dem leeren Waggon waren nur wir beide gewesen, und sie hatte mich gefragt, ob sie sich zu mir setzen kann. Sie erzählte viel über sich und fragte mich eigentlich wenig.

Ihre Großmutter war Chinesin, sie selber aber flachsblond und blauäugig. Auffällig war nur ihre zierliche Statur. Sie zeigte mir Bilder von ihren Kindern. Die hatten schwarze Haare und Mandelaugen, waren dafür aber viel größer, jedenfalls im Vergleich mit der Mutter, wie sie mir erzählte. Wir staunten über die Launen der Vererbung.

Genau wie ich war sie eine Rucksackberlinerin. “Als wir nach der Wende arbeitslos geworden sind, haben wir unser Haus auf Rügen verkauft, und sind nach Berlin gezogen. Wir haben am Savignyplatz eine Eigentumswohnung.”

Den Ort bei Stralsund, in dem ich meine Lehre gemacht habe, kannte sie. “Warst du mal im Dorfkrug? Dort habe ich meinen Mann kennengelernt während der Schneekatastrophe Achtundsiebzig/Neunundsiebzig, als wir dort ein paar Tage bleiben mussten, weil der Zug nicht weiterfuhr.”

Ich sagte: “Über unserem Dorf wurden Säcke mit Brot von einem Hubschrauber abgeworfen. Ständig trat ich unserer Katze auf den Schwanz, weil wir kein elektisches Licht hatten. Wir brieten auf dem Kachelofen Kartoffelpuffer. Das schönste aber war, dass ich wochenlang nicht in meine Lehre brauchte. Zuerst, weil ständig kein Bus oder Zug fuhr, später, weil sie nicht genug Kohlen hatten, und nur die beiden Abiklassen, die im Sommer Prüfung hatten, im Speisesaal unterrichtet wurden.”

Wir waren ins Gespräch vertieft, als neben uns ein Zug, an dem vorne die Aufschrift Westkreuz dranstand, einfuhr. Plötzlich sprang sie mit dem Ausruf: “Das ist meiner”. Der fährt über Savignyplatz", durch die offene Tür in ein Abteil. Ich blickte dem Zug verblüfft hinterher. Wir hatten ja nicht mal unsere Nummern ausgetauscht.

Ob sie sich mit Anfang Vierzig schon zu alt fühlte, sich auf etwas neues einzulassen. Sie war vielleicht zufrieden mit ihrem Leben und wollte keinerlei Veränderung. Was sah sie in mir, ihrer harmlosen, freundlichen Reisegefährtin? Sie ging auf in ihrer Rolle als kleinbürgerliche Ehefrau und freute sich wohl schon auf Enkelkinder um einen neuen Lebensinhalt zu haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus waren. Sie wollte wohl nichts falsch machen.

Grüne Äpfel und Riot Grrrls

“Darf ich die Damen um ein Interview bitten”, fragt Uli Zelle von der Abendschau zwei Frauen, die vor Kranzler ihr Kännchen trinken. Nancy und ich sind damit einverstanden. “Wie lange seid ihr schon befreundet, und wo habt ihr euch kennengelernt?” fragt der Reporter. Bereitwillig erzählen wir ihm, wie wir vor vielen Jahren während einer Schicht im Glühlampenwerk Narva zusammen gearbeitet haben.

Wir beide waren aber keine Festangestellten, sondern halfen nur ab und zu tageweise in der Glühlampenproduktion aus.

“Setz dich zu ihr”, hatte der Schichtleiter bei Narva zu mir gesagt und wies auf ein grünhaariges Mädchen, als ich die Abteilung betrat, in die mich das Einstellungsbüro im Erdgeschoß, wo die Aushilfskräfte rekrutiert wurden, geschickt hatte. Sie redete mich gleich an. “Du kannst Nancy zu mir sagen. Kennst du Sid Vicious?” Ich musste passen, denn ich hatte den Namen noch nie gehört. “Das ist ein Musiker. Die Freundin von ihm hieß auch Nancy.”

Über diese Nancy Spungen habe ich später mal was gelesen. Einer, der sie in New York gut gekannt hatte, sagte: "Selbst in Punkkreisen, in denen sich die Leute rumtrieben, die auch nicht so richtig rein passten, galt sie als Außenseiter. Besonders die Frauen mochten sie nicht.
So ähnlich erging es mir eigentlich auch. Schon merkwürdig diese Übereinstimmungen. "Deswegen hat sie die Gewalttätigkeiten von ihrem Freund so lange ertragen. Sie hatte ja keinen, wo sie hin konnte", wurde mir klar.

Was hat dich eigentlich an ihr so fasziniert, dass du sie bis heute nicht vergessen kannst?”, werden viele fragen. Die Antwort ist, dass mir nie jemals einer über den Weg gelaufen ist, der mir so ähnlich war. Ich hatte mein anderes Ich getroffen. Wenn ich den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, sprach sie es aus. So etwas war mir noch nie widerfahren. Ein Glücksfall. Ich lernte in ihr eine Frau kennen, die genauso wie ich, alles las, was ihr in die Finger fiel.

Meine ganze Kindheit hatte ich mir deswegen Vorwürfe anhören müssen. “Du hast nur die Bücher im Kopf. Später will dich keiner heiraten, weil du nur auf der Couch liegst und liest”, warnte mich meine Mutter und blickte mich sorgenvoll an. Sie selber las gar nichts und war auch nicht verheiratet. Meine Oma bezeichnete mich als faul und sah schwarz für meine Zukunft. Vielleicht hatte sie nicht unrecht. Das viele Lesen gehörte sich in ihren Augen für ein Mädchen nicht. Man sollte sich mit praktischen Dingen beschäftigen. Und nun traf ich endlich mal eine andere Frau, die genauso verrückt nach Büchern war.

Ich spürte, sie könnte der Katalysator sein, den ich brauchte. Wir beide als Team könnten etwas reißen. Das haben Paul und John auch sofort geahnt, als sie sich das erste Mal begegneten. Na ja, ich gebe zu, der Vergleich ist vielleicht ein bisschen hochgegriffen.

Natürlich sind aus uns beiden große Schriftstellerinnen geworden, und wir haben zusammen die Welt erobert. "Unsere feministischen Werke sind wegweisend", erzählen wir der Abendschau, "und wir werden in einem Atemzug mit Simone de Beauvoir genannt".

So hätte es vielleicht sein können, wenn wir beide uns nicht schon seit langem aus den Augen verloren hätten. Ich habe sie seit der Spätschicht im Glühlampenwerk ja nicht mehr wiedergesehen. Vielleicht sind wir doch mal aneinander vorbeigelaufen.

Aber ich werde sie gar nicht mehr erkannt haben, denn damals war sie ein Punk. Sie hat sich bestimmt das Grün aus den Haaren raus wachsen lassen und die Netzstrumpfhosen sind auch schon lange in Einzelteile zerfallen. Ich sehe ja relativ schlecht. Schon oft haben mir Leute erzählt, dass sie mir auf der Straße begegnet sind, und sich gewundert haben, warum von mir keine Reaktion kam. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass wir uns mal begegnet sind.

Aber sie wird mich nicht angeredet haben. Sie ist der Typ Mensch, der, wenn er einmal etwas beschließt, dass durchzieht, auch wenn es keinen Sinn macht.

Sie ist schon mit zwölf, dreizehn in die Punkszene in Berlin reingerutscht. Damit konnte ich, die aus einem kleinen Dorf war, nicht konkurrieren. Aber wie bei vielen Berlinern, die früh damit angefangen hatten, einfach weil es hier so viele Möglichkeiten gab, lief ihre wilde Zeit auch relativ schnell aus, denn alle Punks, die ich später nach ihr fragte, kannten sie schon nicht mehr. Wie viele Mädchen gehörte sie wohl nur locker in diese Männerkreise rein und konnte sich dort nicht ewig halten, zu mal sie auch keinen Freund hatte.

Vielleicht sahen sich viele von ihren Punkerkumpels, wenn sie eine feste Beziehung anstrebten, ja lieber nach solideren Mädchen um, die gesellschaftlich besser integriert waren. Man muss sich ja auch vor Augen führen, dass sowas für die meisten von ihnen nur eine kurze Ausbruchphase während ihrer Jugendzeit darstellte.

Wir beide waren der Typ Frau, die zwar Anziehungskraft besaß, aber bei denen Männer nicht sofort die Hochzeitsglocken läuten hörten.Ich bin der Meinung, dass Frauen, die aus irgendeinem Grund nicht geheiratet werden, für die Gesellschaft sehr wichtig sind. Es ist nicht immer mangelnde Schönheit, ganz im Gegenteil, manche Frauen sind vielleicht sogar zu sexy um als Gattin erwählt zu werden, eher dass sie nicht genug angepasst sind und auch fehlende Menschen-/ Männerkenntnis spielt eine Rolle, letzteres häufig bei Alleinerzogenen. Diese werden dann von Männern, die fest liiert sind und vielleicht ihre Angetraute sogar lieben, aufgesucht, um sich von einer stressigen Beziehung zu erholen.

So erging es meiner Mutter. Mein genetischer Vater, der sich mit seiner Frau ständig prügelte und viel trank, hätte wohl sonst irgendwann im Suff zur Axt gegriffen und seine Familie ausgelöscht.Merkwürdigerweise waren Nancy und ich, die beide an der Position der Frau in der Gesellschaft rütteln wollten, scheinbar genau in das reingeraten, wogegen wir eigentlich rebellierten und dienten den Männern in unseren Cliquen je nach Bedarf als verständnisvolle Freundin, in deren Armen sie Tränen wegen anderen Frauen vergießen konnten oder auch als temporäre Liebespartnerinnen, die keine Fragen stellten und nicht viel erwarteten.

Wenn wir uns dem verweigert hätten, wären wir dort gar nicht akzeptiert worden. Man kann sich das ja schönreden. Ich fand, unser Frauenprotest verpuffte irgendwie ins Leere. Eigentlich wurden wir ganz schön benutzt. "Nicht, dass ich das Leben meiner Mutter wiederhole, nur in veränderter Form", fürchtete ich.

Zweien, die sich ähnlich sind, passiert auch irgendwie das Gleiche. Wir waren ungefähr in einem Alter, sie neunzehn, ich Anfang Zwanzig, hatten keinen Freund, keinen Mietvertrag - ich lebte in einer Ausbauwohnung, ohne etwas auszubauen, und mir graute schon, wenn ich Schritte auf der Treppe hörte, denn ich dachte, es ist die Polizei - sie dagegen wohnte bei einer Freundin. Aus unser Ausbildung waren wir auch beide rausgeflogen und hielten uns mit Aushilfstätigkeiten über Wasser. So richtig mochten sie uns alle beide nicht.

Der große Unterschied zwischen uns war, dass sie Berlinerin war und ich aus Mecklenburg kam. Eine, nicht unwesentliche, Gemeinsamkeit: uns beiden knurrte der Magen. In der großen Pause während der Spätschicht im Glühlampenwerk machten wir uns über die sauren Äpfel her, die es in der Kantine gratis gab, was aber unseren Hunger nicht wirklich stillte. Nach der Arbeit begleitete ich sie noch zur Straßenbahn und erwartete, dass wir uns verabreden. Sie spürte wohl auch, was ich dachte, fuhr aber weg, ohne ein Wiedersehen mit mir auszumachen.

Wie ich schon erwähnt habe, niemand, den ich später nach ihr fragte, kannte sie. Aber einmal, es war Anfang der Neunziger, klopfte es bei mir. “Weist du, wo dein Vormieter jetzt ist?” fragte mich ein junger Mann. Da musste ich passen, den kannte ich gar nicht.“Ich bin aus Lichtenberg”, erzählte er mir. Er war so alt wie Nancy. “Vielleicht kennt er sie ja”, dachte ich hoffnungsvoll. Ich fragte ihn nach ihr, und hatte endlich Erfolg. Aber obwohl er sogar mal kurz mit ihr zusammen gewesen war, wusste er nichts über sie. Sie ist wohl regelrecht von dieser Stadt verschlungen worden. Und was wollte ich eigentlich hören?

“Sie war eine Nymphomanin”, sagte er. “Sie treibt es mit jedem”, wurde vielen Frauen auch in der Blues-und Hippieszene nachgesagt. Und außerdem hörte ich dort öfter, wenn Männer über Frauen redeten, den Satz: “Sie säuft wie ein Loch”. Ich sah darin den Versuch einer Revolte gegen das bürgerliche Frauenbild, dem unsere Mütter versucht hatten zu entsprechen, und daran auch irgendwie gescheitert waren.Das freie Ausleben ihrer Sexualität war Frauen über die Jahrhunderte nie gestattet gewesen, den Männern dagegen immer.

Frauen, die die Sexrevolte wagten, was natürlich von der Gesellschaft nicht so gut aufgenommen wurde, waren häufig in der Punk- und Hippieszene anzutreffen. Nancy hatte wohl nach einer Weile keinen Bock mehr, eine Vorkämpferin für die Freiheit der Frau zu sein und frustrierten Spießern eine Zielscheibe zu bieten,
- Nach der Spätschicht gingen wir noch eine Arbeiterkneipe auf der Warschauer. Mir wurde Angst und Bange, als ich mitbekam, wie hasserfüllt die Männer Nancy ansahen, und wie sehr sie sich durch ihr Äußeres provoziert fühlten. -
denn sie muss sich schon kurze Zeit danach gewandelt haben.

Es gibt viel zu wenig aufmüpfige Frauen. Sie haben wohl eine kurze Halbwertzeit. Ich erinnere mich noch an einen Ratschlag meiner Mutter: "Als Frau ist es das wichtigste, dass man sich anpassen kann." Den Spruch fand ich schon immer ätzend.

Als ich Leute aus der Bluesszene kennenlernte, die eine Machooase sondergleichen darstellte, hatte ich gleich zu Anfang mit Erschrecken konstatiert, dass die Mädels dort meist keinen hohen Stellenwert besaßen. Viele galten sogar als Schlampen. Ich übrigens auch, denn obwohl ich in punkto Solidarität in dieser Zeit vollkommen über mich hinauswuchs, und dafür Anerkennung erwartete, erging es mir nicht anders. Vielleicht fiel das den anderen Frauen, die mit Vätern aufwachsen sind, ja gar nicht auf, da sie es von zu Hause gewöhnt waren. Ich dagegen, die aus einer matriachalisch geführten Familie kam, wunderte mich darüber, wie sehr der Mann verehrt wurde.

Viele der Männer haben zwar gegen die Gesellschaft rebelliert, aber die Biedermannmoral, mit der sie aufgewachsen waren, verinnerlicht. Die Punks und Hippies wollten alles anders machen, aber in so einer wichtigen Sache, wie der Beziehung zwischen den Geschlechtern, machten sie es ganz genauso wie die von ihnen verachteten Spießer. Eigentlich erwarteten sie von dir, dass du nichts erwartest.

In die kleinbürgerlichen Enge, aus der wir Frauen ausbrechen wollten, waren wir wohl wieder reingeraten. “Vom Regen in die Traufe gekommen”, dachte ich. Aber wenigstens haben wir es versucht. “Was ist eigentlich eine Nymphomanin?”, frage ich mich. Ich wusste bloß, dass sich eine Cousine von meiner Mutter den “Guten Ruf” verdorben hat. Bei ihren Eltern an der Wand, wo die Familienfotos hingen, fehlte ihr Bild. Auch durfte ich sie niemals kennenlernen. Vielleicht dachte meine Mutter, ihr Vorbild könnte auf mich abfärben. Aber was war so schlimmes dran, wenn man für die Liebe lebt? Andere widmen ihr Leben der Erfindung der Wasserstoffbombe und damit der Auslöschung der Menschheit.

Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass die Cousine meiner Mutter vom Pfad der Tugend abgewichen ist? Ich glaube, dass könnte daran gelegen haben, weil sie als Mädchen viel bei drei Verwandten war, die nur “die Tanten” genannt wurden. Die drei Schwestern waren sogenannte alte Jungfern und lebten zusammen. Nur eine war mal kurzzeitig verheiratet gewesen und hatte eine gute Witwenpension.
Sie, die vor der Jahrhundertwende geboren waren, mussten natürlich arbeiten gehen und ihr eigenes Geld verdienen, was zu der Zeit nicht üblich war. Damit waren sie schon früh emanzipierte Frauen.

Irgendwie muss sie mit der feinen Sensorik einer Heranwachsenden die Traurigkeit und Frustration ihrer Tanten, an denen sie hing, erspürt haben. Genauso ging es mir, als ich die drei, die ja auch meine Verwandten waren, kennenlernte. Dieses Klima von unterdrückten sexuellen Wünschen und stiller Resignation muss die Entwicklung ihrer Weiblichkeit beeinflusst haben, und löste den Wunsch in ihr aus, es auf keinen Fall genauso zu machen und sie holte, als sie in die Pubertät kam, stellvertretend für sie alles nach, kam dadurch natürlich mächtig mit der öffentlichen Meinung in Konflikt, aber das nahm sie in Kauf.

Vielleicht saß meine Tante in ihrer Kleinstadt im Norden als einzige Frau zwischen lauter biertrinkenden Männern im vollgequalmten “Deutschen Haus”, war Stadtgespräch und übel beleumundet, was auch immer man darunter versteht. Das imponierte mir. Ich fand es mutig von ihr, sich in dieses Männerrefugium vorzuwagen. Das waren immerhin die Fünfziger. Ich fand es cool, dass meine Tante sich nicht um die öffentliche Meinung kümmerte. Wenn ich da an meine Mutter und ihren ständigen Spruch: “Was sollen die Leute denken?”, dachte.

Sie ging offen mit ihrer Sexualität um. “Hier treffe ich mich immer mit den Soldaten aus der Russenkaserne”, erzählte sie ihrer verblüfften Cousine, meiner Mutter und zeigte auf ein Versteck in dem Wäldchen, das sich an ihr Elternhaus anschloss. Da waren die beiden noch in der Schule. “Mann, oh Mann. Tantchen hat es ja ganz schön krachen lassen”, dachte ich bewundernd. “Aber immerhin haben die Russen uns ja befreit. Dafür sind wir ihnen Dankbarkeit schuldig”.

Ich hätte sie gerne mal kennengelernt, denn mir war automatisch jeder, den meine Mutter nicht leiden konnte, sympathisch. Es gab wohl den guten Sex und den bösen Sex. Der gute fand im Ehebett oder zumindest in einer offiziellen Beziehung statt. Der böse war alles andere. Ich bin eher durch letzteren entstanden, denn mein Vater war verheiratet.

ZV-Lager - Mädchen in Uniform

Jetzt, wo ihr Gesicht seine Jugendlichkeit verloren hat, wirkt es schlau und gerissen. Ich sehe sie mit ihrem Mann manchmal im Internet auf irgendwelchen Synagogenkonzerten. “Was wollen sie da? Sie sind ja gar keine Juden”, fragte ich mich. Scheinbar ist es ihnen gelungen, sich dort irgendwo einzuschmeicheln.
"Vielleicht ahmt sie ihre Schwiegermutter nach", dachte ich. Mit der hatten wir uns mal getroffen, als sie bei einer Ausstellungseröffnung war. Eine schöne Frau. Als sie jung war, musste sie mal phantastisch ausgesehen haben. An der Art, wie meine Freundin sie anstarrte, merkte ich, dass sie in sie vernarrt war. Aber nicht umgekehrt, im Gegenteil. Ich spürte, dass ihre Schwiegermutter dachte: "Was findet mein Sohn an der?"
Ich hielt ihre Schwiegermutter für eine Wichtigtuerin, die sich überall reinhängte. Was tat sie eigentlich auf der Ausstellung? Niemand schien sie für voll zu nehmen. Ständig eilte sie auf Künstler zu, die sie abblitzen ließen, was ihren Enthusiasmus aber nicht trübte. Wahrscheinlich tue ich ihr Unrecht. So was passiert uns allen, dass wir irgendwo dazugehören möchten, wo sie uns nicht haben wollen.

Zum Glück ist das nie eingetreten, wovor ich mich immer gefürchtet habe. Es wäre der ultimative Supergau gewesen, wenn ich eines Tages die Tür zu einem Büro im Jobcenter geöffnet hätte, und sie da vor mir sitzt und im Computer meine Akte lesen kann.

Einmal, in meiner ersten Zeit in Berlin, lief jemand, die ich nicht kannte, vor mir im Hörsaal die Treppe hoch. Ihr halblanges blondes Haar wurde am Hinterkopf von einer sogenannten Bananenspange zusammengehalten. “Das sieht gut aus”, dachte ich.

Bald darauf mussten wir zwischen Ostern und Pfingsten sechs Wochen zu einem Zivilverteidigungskurs und wohnten in Bungalows. Eine geniale Zeit. Dort lernte ich die Unbekannte kennen, die mir aufgefallen war. Sie suchte meine Nähe, und Arm in Arm zogen wir mit einer Weinflasche abends durch die Gegend. Irgendwie passte das mit uns. Wir mochten uns spontan.

Berlin hat ja eine herrliche Umgebung. Es gab auf dem Gelände sogar einen See, an dem wir beide oft saßen. Sie, die Berlin aufgewachsen war, erzählte: “Als ich noch auf der Penne war, haben wir verschiedene Phasen durchgemacht. Eine Zeitlang sind alle zu Jazzkonzerten gelaufen, als das vorbei war, haben wir eine Weile immer beim Pfarrer Tee getrunken. Ich war auch mal mit einem Freund zusammen, der lange Haare hatte. Er und ich sind sechs Wochen durch Ungarn und Bulgarien getrampt.” Hinter ihre wilde Zeit hatte sie aber nach dem Abi, oder spätestens seit ihrem neuen Freund, der in einem Ministerium arbeitete, die anderen vermuteten, dass es die Stasi war, einen Schlussstrich gezogen.

Nach ihrer kurzen Phase der Anarchie, wohin sie ihr Temperament getrieben hatte, aber auch ihre wache Intelligenz, die Reibungsflächen suchte, hatte sie bei sich beschlossen, einen cut zu machen. Ihre Schallplatten sind wohl bei irgendeinem Umzug kurzerhand in den Müllcontainer geflogen, und sie vergaß die ehemaligen Kumpels. Ich glaube in der Freundschaft mit mir erwachte noch Mal ihr altes Ich, bevor sie ihm endgültig das Lebenslicht ausblies.

Nach den Semesterferien hatte sie bei sich wohl so entschieden, dass sie mich nicht mehr brauchte. Ich staunte, dass so was so einfach geht. Wir wechselten nur noch einen förmlichen Gruß, wenn wir uns begegneten.

Dieser Typ Mensch, der alles nur nach dem Verstand entscheidet, begegnete mir in ihr das erste Mal aber leider nicht das letzte Mal. Bei Bilanzen rechnet man mit Soll und Haben. Da schlug die Freundschaft mit mir wohl auf der Sollseite zu Buche. Ich schluckte die Enttäuschung runter.

Ich glaube aber, dass gerade die Gegensätze zwischen uns unsere Anziehungskraft aufeinander ausgemacht hatten. Außerdem wollte ich in Berlin bleiben, und mich zog an ihr auch an, dass sie aus dieser Stadt kam. Ich mochte an ihr ihre Intelligenz und war wohl die Seite von ihr, die sie bei sich unterdrückte. Wenn dich an jemandem sein Verstand anzieht, kann das gefährlich werden. Ehe du dich versiehst, setzt er dich matt wie beim Schach oder manipuliert dich. Eines muss ich ihr lassen. Sie war die erste, die zu mir gesagt hat, dass ich schreiben soll.

Während dieses sogenannten ZV-Lagers schloss ich auch mit anderen Freundschaft, die ich bisher nur vom Sehen gekannte hatte, da sie aus anderen Seminargruppen kamen.

Viele von uns machten während dieser Jahre in ihrem Leben eine freimütige Phase durch und wirkten so offen und unvoreingenommen, wie wir es in Wirklichkeit wohl gar nicht waren. Das erhöhte natürlich auch die Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. Die innere Freiheit, die viele ausstrahlten, entstand auch durch die äußere Freiheit, die die Uni uns gab. Vorher waren wir ja rund um die Uhr kontrolliert worden. Wenn ich da noch an mein Lehrlingswohnheim dachte, wo abends um zehn immer alle da sein mussten und das Licht abgedreht wurde.

Die Zeit dort gehörte zu den schönsten meines Lebens. Wenn ich da noch an die geniale Nachtwanderung mit Karte und Kompass denke.

Ich ahnte aber, dass über allem schon der Hauch der Vergänglichkeit lag. Und wirklich verlor sich der Kontakt nach Ende unseres Studiums. Einmal schleppte mich mein Freund, der Union-Fan war, mit in die Alte Försterei. Dort traf ich die eine davon wieder, damals eine der lustigsten und aufgeschlossensten, die auch mit ihrem Freund da war. Sie interessierte sich genauso wenig für Fußball wie ich, aber zu mehr als zu einem kurzen Gruß kam es nicht zwischen uns. An unseren Männern lag das nicht, die hatten bloß Augen für das Fußballfeld.

Eine andere aus der Truppe, die damals ein Hippiemädel war - meinen Zweiundzwanzigsten feierten wir in ihrer Studentenbude im Prenzlauer Berg - traf ich nur wenige Jahre danach mal im Bus. Sie war gerade Mutter geworden, neben ihr standen Kinderwagen und Kindesvater. Sie nickte mir nur kurz zu. Das wars dann.
Damals hatte sie sogar zwei Freunde zur gleichen Zeit. Der eine davon war ihr ehemaliger Verlobter, den sie zufällig wiedergetroffen hatte. Wenn der sie besuchte, erzählte sie dem anderen immer, dass sie am Wochenende in Berlin bleiben muss. "Du warst mit fünfzehn schon verlobt?", staunte ich. Sie nickte. Ich hätte so was bürgerliches bei ihr, die immer mit einem Shellparka rumlief, gar nicht vermutet. Ich überlegte, wer von den beiden wohl der war, mit dem ich sie im Bus gesehen hatte. Oder gab es da noch einen?

Eine dritte wohnte sogar mal im selben Haus wie ich. Sie war mir schon im Hausflur aufgefallen. Eines Tages sprach sie mich an. “Wir kennen uns doch.” Aber als ich ihr erzählte, dass es bei mir momentan nicht so gut lief, und ich ziemlich in Schwierigkeiten steckte, veränderte sich ihr anfangs erfreuter Gesichtsausdruck, und sie ließ mich nach einer Weile stehen. "Warum habe ich ihr gegenüber eigentlich so offen geredet? Ich hätte ja auch einfach etwas vorschwindeln können”, fragte ich mich später.

Der Grund, dass ich dachte, dass ich mit ihr reden kann, war, dass sie und ihre beste Freundin irgendwie interessanter wirkten als die meisten anderen Studentinnen. Die, die ich in meinem Haus wiedergetroffen hatte, lief zu der Zeit immer mit einer wehenden, roten Mähne und einem abgewetzten Wildledermantel durch die Gegend. Ihre Freundin dagegen trug ihre Haare zu Zöpfen geflochten. Heute würde ich sagen, sie machten auf intellektuell. Sie waren aber ganz in Ordnung und gar nicht eingebildet, jedenfalls zu der Zeit.

Ich fühle mich wohl immer vom gleichen Typ Frau angezogen, der viel bodenständiger und verstandesorientierter ist als ich. Manchmal habe ich den heimlichen Verdacht, dass es immer dieselbe ist, bloß in unterschiedlicher Gestalt, denn obwohl die drei Frauen, um die es geht, scheinbar ganz verschieden voneinander waren, immerhin war die eine ein Punk, die andere eine Intellektuelle und die dritte eine ganz normale Ehefrau, kamen sie am Ende unserer Bekanntschaft zu demselben Entschluss und strichen mich aus ihrem Leben.
 
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Den Text, geschätzte Friedrichshainerin, habe ich schon wiederholt gelesen und tue mich mit einem Kommentar etwas schwer. Man erkennt beim Nachdenken darüber eine persönliche Problematik, von der nicht mal klar ist, wessen Problematik. Schließlich müssen Ich-Erzählerin und Autorin ja nicht identisch sein. Sind sie es aber doch, hat der Kommentar bald die Tendenz zur Lebenserklärung und -beratung und könnte leicht als übergriffig empfunden werden. Ich versuche diesem Dilemma zu entkommen ...

Ich fühle mich wohl immer vom gleichen Typ Frau angezogen, der viel bodenständiger und verstandesorientierter ist als ich. Manchmal habe ich den heimlichen Verdacht, dass es immer dieselbe ist, bloß in unterschiedlicher Gestalt
Das scheint mir die zentrale Aussage zu sein, sie steht also zu Recht am Schluss. Eine solche durchgehende Art Wahl von Bezugspersonen ist ziemlich häufig. Proust hat das Thema in der "Recherche" ausgiebig behandelt und bringt es auf den Begriff, dass die starken Neigungen "durchgepaust" werden. Soll man sich also die menschliche Biographie wie einen Bach vorstellen, der seinen Lauf nie ändert, nur sein Bett immer tiefer in den Untergrund gräbt? Und die Katarakte sind nur die Illusionen von etwas gänzlich Neuem, obwohl hinter ihnen das Leben wie bisher weitergeht?

Ein bisschen illusionär ist wohl auch die Vorstellung von der Identität der Bezugspersonen. Identisch sind sie nur in jenen Aspekten ihrer Persönlichkeiten, die uns anziehen. Im Übrigen können es sehr verschieden geartete Individuen sein. Der Leser deines Textes kann sie, im Gegensatz zur Ich-Erzählerin, gerade auch als solche wahrnehmen. Ist dann die schematische Sicht aufgrund eines bestimmten Erklärungsmusters das Problem? Man könnte auch auf die Idee kommen, diesem Muster bewusst auszuweichen. Ich sehe, dass ich Gefahr laufe, doch in Richtung Lebensberatung abzudrehen ...

Ein geringfügiger Verbesserungsvorschlag: Die Lesbarkeit und das Textverständnis würden erleichtert bei herausgehobenen Zwischenüberschriften (fett oder kursiv).

Was mich als Wahl-Ostberliner ein wenig irritiert hat: Nach der Ankunft in Lichtenberg stehen die beiden Frauen dort auf einem Bahnsteig und dann springt die eine rasch in eine S-Bahn mit dem angezeigten Ziel Lichterfelde? Hm, heute ist Lichterfelde in keinem Fall eines der möglichen Endziele, und ich denke, dass das aus Gründen der Trassenführung auch früher nicht möglich war. Die Stadtbahn hat bis heute keine Verbindungskurve zu den Nord-Süd-Strecken. Kommt in der Zukunft vielleicht mal.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Arno Abendschön,
freut mich, dass Du den langen Text sogar mehrmals gelesen hast. Ich dachte eigentlich: Das liest sowieso keiner. Ich habe mich bei dem Thema eventuell ein bisschen übernommen. Es geht ja um den merkwürdigen Umgang vieler Frauen mit Freundschaft, der wohl unter anderem auch der Grund dafür ist, dass die Männer gesellschaftlich immer noch die Nase vorn haben. Deshalb habe ich auch am Anfang die berühmte Szene, für Kenner ein Muss, erwähnt, wo Mick und Keith sich das erste Mal sahen. Als die beiden merkten, dass sie musikalisch und menschlich auf einer Linie lagen, wurden sie Freunde, gründeten die Rolling Stones und wurden weltberühmt. Die drei Freundinnen dagegen, mit denen ich mich auf Anhieb gut verstand, ließen mich im Stich und brachen schon nach kurzer Zeit den Kontakt völlig ab.

Es soll auch um Frauenemanzipation gehen, wozu auch die sexuelle gehört. Ich glaube, das geht aus dem Text hervor, am meisten tat es mir um das grünhaarige Punkermädchen leid. Sie verkörperte für mich einen Ausbruch aus festgefügten Rollenmustern. Auch ihr freier Umgang mit Sexualität imponierte mir, die sehr von ihrer Herkunft aus einem kleinen Dorf in Mecklenburg geprägt war, wo es das wichtigste war, was die Leute denken, und ich meine Tante nicht kennenlernen durfte, weil sie sich den Guten Ruf verdorben hatte.

Ich wollte die drei gescheiterten Frauenfreundschaften rekapitulieren und über die Ursachen nachdenken, warum daraus nichts geworden ist. Es ist zwar nicht dramatisches passiert, aber trotzdem empfand ich das als Verlust. Als ich mich mit der Frau von "Chinagirl" im Zug, der aus Stralsund war, anfreundete, war ich gerade dabei, die Wohnung meiner Mutter auszuräumen und brauchte wirklich Zuspruch. Um so geschockter war ich, als ich mich plötzlich allein auf dem Bahnsteig wiederfand.

Was an der S-Bahn dran stand, weiß ich nicht mehr. Ich wollte bloß andeuten, dass sie im Westteil Berlins wohnt.
Gruß Friedrichshainerin
 
Hoffentlich nerve ich jetzt nicht, werte Kollegin, wenn ich noch mal mit Eisenbahngeographie komme. Das ist meine Spezialität und außerdem habe ich in jüngerer Zeit einige Jahre nah am Bahnhof Lichtenberg gewohnt. Als Zielanzeigen Richtung Westen kommen gewöhnlich nur in Frage: Potsdam (S 7), Westkreuz (S 5), ausnahmsweise vielleicht noch Olympiastadion. Savignyplatz ist kaum denkbar.

Bei meiner letzten Meldung vergessen: Besonders gefiel mir an deinem Text der Einsatz zum Mittelteil mit dem Abendschau-Interview. Man ist zunächst geneigt, das beinahe für wahr zu halten.

Schöne Pfingsten
Arno Abendschön
 
Hallo Arno Abendschön,
Savignyplatz ist aber auf der S5 eine Station vor Westkreuz. Ich hatte angedacht, dass auf der Strecke eine Baustelle ist und die S-Bahn deshalb nur bis dahin fährt. Bis Westkreuz ist dann Ersatzverkehr, wie oft am Wochenende.
Der Platz hat was typisch westberlinisches, und weckt verschiedene Assoziationen in mir. Zum einen muss ich, wenn ich von ihm höre, an die Romantiker denken. Der Namensgeber, ein preußischer Beamter, kannte viele von ihnen wie Clemens Brentano, die Günderrode, ich glaube auch Hölderlin, sehr gut. In jeder Biografie über diese Dichter taucht er auf.

Zum anderen hat ein Bekannter mir erzählt, dass es ihn, als er spontan nach Berlin ging, weil sie ihn aus seinem Elternhaus in Finkenkrug geräumt hatten, das gegen seinen Willen verkauft worden war, eben dorthin verschlug, und er seine erste Nacht in der Stadt auf diesem Platz verbrachte, allein.

Auf die Idee mit dem Interview brachte mich jemand, mit der ich mal zusammen gearbeitet habe. Sie zeigte mir ein Video auf Facebook, auf dem ihr Spross und dessen Freundin lachend auf einer Bank saßen und den Abendschaureportern, die sie spontan gefragt hatten, Rede und Antwort standen. Dabei fiel mir auf, dass diese Freundin genauso aussah wie seine Mutter auf Fotos aus jüngeren Jahren.
Merkwürdig. Da suchen die Männer wohl doch ihre Mutter in den Frauen.

Ich will Dich jetzt nicht weiter stören, da Du bestimmt gerade dabei bist, Deine Dickmilch zu löffeln.
Aber Spaß beiseite. Dickmilch stand, jedenfalls bei meinen Großeltern, in dem Ruf, Tote wieder lebendig machen zu können. Ich werde nie die Szenen vergessen, die sich immer am Küchentisch abspielten: "Das ist was feines Opan, das schmeckt uns", sagte meine Oma mit verklärtem Gesicht, worauf mein Großvater, der sich wohl nicht traute, etwas anderes zu sagen, sein Gesicht zu einem Ausdruck verzog, in den man alles hineininterpretieren konnte und neidisch auf meine gebratenen Eier schielte.
Mein Großvater ist über achtzig geworden und meine Oma über neunzig. Vielleicht war da was wahres dran an dem gesundheitlichen Mehrwert.
Ich staunte Bauklötzer, als ich nach der Wende feststellte, dass die Milch im Westen nicht dick wird, sondern nach einer Weile zu stinken anfängt. Das liegt wohl daran, dass sie bei Euch anderen Behandlungsmethode unterworfen wurde, als bei uns.

Vielleicht solltest Du in Deinen Texten mehr wörtliche Rede einfügen, da Du im Dialogschreiben ganz gut bist. Besonders wenn es komische Wortwechsel sind.
Gruß Friedrichshainerin
 
Savignyplatz ist aber auf der S5 eine Station vor Westkreuz. Ich hatte angedacht, dass auf der Strecke eine Baustelle ist und die S-Bahn deshalb nur bis dahin fährt. Bis Westkreuz ist dann Ersatzverkehr, wie oft am Wochenende.
Der Platz hat was typisch westberlinisches, und weckt verschiedene Assoziationen in mir.
Das ist nachvollziehbar, Friedrichshainerin. Persönlich hätte ich mich für "Westkreuz" entschieden. Das könnte nämlich in der Leserschaft allgemein eher Assoziationen wecken als "Savignyplatz", gerade im Textzusammenhang hier. Es gibt zwei Motive beim Schreiben, die beide ihre Berechtigung haben und die manchmal in Konkurrenz stehen können: das Verständnis des anonymen Lesers gezielt durch diskrete Verdeutlichung zu fördern - oder sich auf den Ausdruck der eigenen Welt im Kopf zu konzentrieren.

Was den realen Platz angeht, so hat er sich im Lauf der letzten 50 Jahre sehr stark verändert, ist heute viel gepflegter, ordentlicher, kommerzialisierter als in den klassischen Westberliner Zeiten. Damals war er ziemlich grau, etwas heruntergekommen und eher Bühne für Randständige. Ich habe jetzt gerade die Passage am S-Bahnhof im Blick, wie oft bin ich da früher durchgeeilt ... Sie diente, so wie sie damals war, ja auch als Filmkulisse (z.B. für "Cabaret"). Sie ist für mich heute nur schwer wiederzuerkennen. Was dir westberlinisch am Platz vorkommt, ist tatsächlich eher das Ergebnis einer Nachwende-Konjunktur, die ebenso auch vormals Ostberliner Viertel umgeformt hat.

Ich staunte Bauklötzer, als ich nach der Wende feststellte, dass die Milch im Westen nicht dick wird, sondern nach einer Weile zu stinken anfängt. Das liegt wohl daran, dass sie bei Euch anderen Behandlungsmethode unterworfen wurde, als bei uns.
Na ja, damals in den alten Zeiten wurde die Milch auch im Westen richtig dick und ich mochte sie dann selbst gern, nur den oben abgesetzten Rahm nicht. Ich weiß nicht, ab wann durch Verlängerung der Haltbarkeit das Dickwerden stark verzögert wurde.

Vielleicht solltest Du in Deinen Texten mehr wörtliche Rede einfügen,
Danke für den Tipp. Hier und da ist das schon geschehen, gerade auch im noch ausstehenden 5. Teil von"Bruchlinien".

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Danke Schön Herr Abendschön, oder eher nicht so Danke Schön,
ich habe mir Deine "Bruchlinien" noch mal angekuckt, und sie haben sich als Zeitmaschine entpuppt. Jetzt sitze ich gerade mit Opa und Oma am Küchentisch und schmiede mit ihnen gemeinsam ein Mordkomplott gegen die Nachbarn. "Wie das?", könnte man sich fragen. Der Apfelbaum im Hof hatte einen Ast, der in das Grundstücke daneben hineinragte und dort auch abgeerntet wurde. Daraus erwuchs jahrzehntelanger Hass. Völliger Schwachsinn.

Hast Du Dir mal überlegt, dass die abgrundtief kleinbürgerlichen Verhältnisse aus denen wir stammen, und aus denen wir, ich auf alle Fälle, versucht haben auszubrechen, auch etwas dazu beigetragen haben, dass unser, jedenfalls mein Leben, auch nicht so verlief wie es eigentlich sollte? Das Gehetzte und Gestichel da immer. Meine Mutter war eher noch schlimmer.

Mir ist es immer nur gelungen, mich mit Leuten anzufreunden, die ähnliches erlebt haben. Besonders sichtbar bei den Männern, mit denen ich zusammen war. Sie sind merkwürdigerweise alle ohne Vater aufgewachsen, wie sich aber erst herausstellte, als wir schon eine Weile zusammen waren.

Vielleicht braucht man, um bei Leuten Freundschaft zu erzeugen, siehe meine drei missglückten Versuche, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, in Friends, irgendwie ein inneres Grundgerüst, dass man sich in frühen Kindertagen erwirbt. Ich weiß nicht, ob wir von Oma und Opa viel Nachahmenswertes gelernt haben. Die Leute merken einem instinktiv an, dass etwas fehlt. Du hast mich mächtig ins Grübeln gebracht. Verdrängtes kam wieder hoch.

Es ist natürlich gefährlich über Kindheit zu schreiben. Viele tappen dabei in die Falle falsche Sentimentalität. Das will dann keiner lesen, da man merkt, dass es geheuchelt ist. Es gibt schon soviel verlogene Kindheitsprosa, dass man da nicht noch etwas hinzufügen muss. Aber es gibt natürlich auch andere Beispiele. Hast Du mal "Und fing sich einen Falken" von Barry Hines gelesen, oder "Ein Engel an meiner Tafel" von Janet Frame. Von beiden gibt es saugute Verfilmungen.

Wie schon gesagt, viele tappen in die Sentimentalitätsfalle und gluckern damit ab. Auch das "Fischkonzert" von Halldor Laxness, auch verfilmt, ist ein geniales Kindheitsding. Wenn Du über Kindheit schreiben willst, sitzt ständig ein Teufelchen auf Deiner Schulter und flüstert Dir etwas rührseliges ein. Deshalb traue ich mich an dieses Thema gar nicht ran. Ich lese bei anderen da ständig etwas von Einkochen und Kuchenbacken. Man malt sich die Vergangenheit zurecht.

Gruß Friedrichshainerin
 
Werte Kollegin, wir sollten vielleicht in einem Textarbeitsforum der Selbstanalyse nur einen bescheidenen Platz einräumen. Daher von mir recht knappe Antworten.

Hast Du Dir mal überlegt, dass die abgrundtief kleinbürgerlichen Verhältnisse aus denen wir stammen, und aus denen wir, ich auf alle Fälle, versucht haben auszubrechen, auch etwas dazu beigetragen haben, dass unser, jedenfalls mein Leben, auch nicht so verlief wie es eigentlich sollte?
Habe mich früh abgenabelt und den allergrößten Teil des Lebens in großer Distanz und unter ganz anderen Bedingungen als daheim verbracht. Gewiss tritt keiner die Lebensreise voraussetzungslos an, ich möchte aber den Einfluss der Herkunft in meinem Fall nicht sehr hoch einschätzen.

Vielleicht braucht man, um bei Leuten Freundschaft zu erzeugen, siehe meine drei missglückten Versuche, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, in Friends, irgendwie ein inneres Grundgerüst, dass man sich in frühen Kindertagen erwirbt.
Ich denke, das wird oft überschätzt. Später, in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter, sind Menschen durchaus noch formbar und entwicklungsfähig, aufgrund der Erfahrungen und Begegnungen in diesen Lebensabschnitten.

Von den erwähnten Büchern kenne ich keines. Wahrscheinlich bin ich gar nicht so sehr an Kindheitsstoffen interessiert. Den Anteil von Herkunft, Familie, Kindheit an meiner literarischen Produktion schätze ich auf unter zwanzig Prozent quantitativ. Es ist für mich heute und schon lange eben nur Stoff zum Gestalten und dann vielleicht meine spezielle Art von Pietät.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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